Andachten

21. März 2020

„Freu dich - jemand denkt an dich“

Liebe Leser*innen, den folgenden Text hat Pfarrer Thorsten Maruschke als Predigt zu Jesaja 66, 10-14, verfasst und teilt ihn gerne mit Ihnen!

Ich öffne das Paket, das mir der Paketbote gerade mit gebührendem Abstand natürlich überreicht hat. Kein Absender. Nur die Handschrift, die kenne ich irgendwie. Liebevoll in altes Zeitungspapier gewickelt finde ich eine Rolle Klopapier, ein Päckchen Trockenhefe und einen Zettel: „Freu Dich!“, steht darauf, „Jemand denkt an Dich!“

Da muss ich dann doch lächeln, nein eigentlich schon eher lachen. Mich freuen eben. Was der geheimnisvolle Absender erreichen wollte, das hat er erreicht. Da hat jemand an mich gedacht und mir eine kleine Freude gemacht. Mitten in dieser surrealen Zeit, in der heute Nachmittag schon nicht mehr gilt, was heute Morgen noch galt; in der ich mich über mich selbst wundere, wenn ich schwanke zwischen Angst und hysterischem Lachen; in der Klopapier und Hefe zum Must-have dieser Frühlingssaison avancieren.

Natürlich gehöre ich nicht zu den Panikschiebern und auch nicht zu den Hamsterkäufern. Natürlich bleibe ich die ganze Zeitrational und besonnen, egal wie alarmistisch die anderen um mich herum die immer neuen Einschränkungen unseres gewohnten Lebens kommentieren. Ich doch nicht! 

Und doch: Da hat sich etwas verändert in dieser Woche. So oft wie momentan rufe ich meine Eltern sonst nicht an. Unter normalen Umständen würden sie mich wahrscheinlich besorgt fragen, ob ich krank wäre. Dass es bei Kaufland so voll ist wie sonst nur am Tag vor Weihnachten, das belustigt mich nicht nur. Nein, ein bisschen macht es mir auch Angst. Und ich überlege ernsthaft, den letzten Einkaufswagen, den ich noch ergattert habe, zu desinfizieren, bevor ich ihn anfasse. Ich horche noch mehr als sonst in mich hinein und frage mich jetzt bei jedem Räuspern, was mir wohl fehlen könnte. Und dieses Bild vom Kolosseum ganz ohne Menschen, und zwar nicht, weil sie nachträglich wegretuschiert wurden, sondern weil sie wirklich nicht da sind, das gruselt mich insgeheim doch.

Selbstdiagnose: Ich habe noch keine Angst. Auch keine Panik. Aber ich bin verunsichert. Das Leben, das ich kenne – gibt es nicht mehr, wär‘ zu viel gesagt. Das Leben, das ich kenne, hat sich ganz schön verändert. Und zwar mit einem Tempo, das mich außer Atem bringt. Außer Atem? – blöde Metapher vielleicht…Oder vielleicht doch gerade die richtige? Selbst das weiß ich nicht mehr.

Und so komisch das in normalen Zeiten geklungen hätte: Das rätselhafte Paket mit dem Klopapier, mit der Hefe und mit diesem Zettel – es hilft mir, meine Unsicherheit für einen Moment zu vergessen – oder besser: meine Unsicherheit aushalten zu können.

Ich drehe den Zettel um. Auf der Rückseite steht auch noch etwas. Ich lese:

Freut euch mit Jerusalem und jauchzt alle, die ihr sie liebt! Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr um sie trauert!Weil ihr saugen dürft und euch sättigen an den Brüsten ihres Trostes, weil ihr schlürfen dürft und euch erquicken an den Brüsten ihres Glanzes. Denn so spricht Gott: Ich breite bei ihr Frieden aus wie einen Strom und wie einen überschäumenden Bach den Reichtum der fremden Völker. Ihre Säuglinge sollen auf der Hüfte getragen und auf den Knien geschaukelt werden. Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten, und an Jerusalem sollt ihr getröstet sein. Ihr werdet es sehen und euer Herz wird sich freuen, und eure Knochen sollen sprossen wie junges Gras. Die Hand Gottes ist wahrnehmbar an denen, die im Dienst Gottes stehen, aber Fluch denen, die Gott feindlich sind.

Jetzt erkenne ich sie, die sorgfältige Handschrift meiner Mutter.Und der Text? Ich den schlage ihn nach. Jesaja, 66. Kapitel. Es ist der Text, der diesem Sonntag seinen Namen gegeben hat: Lätare. Laetamini cum Hierusalem, freut euch mit Jerusalem, so hebt er an und gibt damit den Ton vor für diesen Sonntag: Freude ist angesagt, mitten in der Passionszeit, in der doch sonst die Leidenstöne vorherrschen.

Irgendwie unpassend passend erscheint mir dieser Text in unserer Ausnahmesituation. Schau ich mich um und schau ich auf mich selbst, dann ist die Passionszeit dieses Jahr tatsächlich eine Passionszeit, eine Leidenszeit. Auf ungeahnt neue Weise zwar, aber die Beschwerlichkeiten geben doch deutlich den Ton an. Einschränkung unserer Freiheiten, Angst und Unsicherheit in allen Gesichtern, die müden Augen derjenigen, die an vorderster Front gegen die neue Krankheit kämpfen und noch so Vieles mehr.

Und da kommt mir so ein unbekümmerter Gute-Laune- und Jubel-Text schon ziemlich unangemessen vor. Wie kann der sich einfach so naiv vor sich hin freuen? Aber andererseits brauchen wir alle doch gerade nichts dringender als so eine kurze Pause vom Sorgen-Machen und so einen frohen Lichtblick auf bessere Zeiten.

Das brauchte das Volk Israel, dem diese Worte ursprünglich gesagt wurden, allerdings auch. Jahrzehnte liegen hinter ihnen, in denen sie von anderen fremdbestimmt wurden, in denen fremde Mächte sie vereinzelt haben und ihnen die Nestwärme ihres eigenen Volkes genommen haben. 

Fremdbestimmt – vereinzelt – ohne Nestwärme. Bei uns dauert dieser Zustand erst eine Woche, aber jetzt schon kann ich das Verlangen nachvollziehen, das auch das Volk Israel gespürt haben muss. Eine drängende Notwendigkeit, auch endlich mal wieder was Positives zu hören und zu sehen. Ein Durst nach jeder noch so kleinen Freude.

Eine Rolle Klopapier, ein Päckchen Trockenhefe und ein Zettel – so einfach war es, mir diese Freude zu machen. Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten. Dieses Paket, es macht mich tatsächlich zuversichtlicher. Denn es sagt mir: Es wird wieder bessere Zeiten geben. Zeiten, in denen Frieden herrscht und Reichtum. So sagt es Jesaja. Und ich ergänze: Zeiten, in denen wir wieder Gemeinschaft haben dürfen, wir uns ohne Angst berühren, Zeiten der Gesundheit und Zeiten der Bewegungsfreiheit. Zeiten, in denen wir unbekümmert wie Säuglinge auf der Hüfte getragen und auf den Knien geschaukelt werden. Zeiten, in denen sich unser Herz freuen kann und unsere Knochen sprossen wie junges Gras, unsere Körper vor Gesundheit und Lebensfreude strotzen. Ich will, dass es so kommt. Ich weiß, dass es so kommt.

So wie nur meine Mutter mich trösten kann, so hat sie mich mit diesem Paket getröstet. Und ja ich weiß, es war auch ein kritisches Augenzwinkern dabei. Dazu kenne ich sie zu gut. Klopapier und Hefe – wenn es nur das ist, was dich fröhlich macht – wie gut geht es dir eigentlich noch? Wenn du dich nur sicher fühlst, wenn du noch Klopapier und Hefe im Haus hast, egal wie es den anderen geht, wie egoistisch ist das eigentlich? Ja, Mama, hab‘ schon verstanden!

Ich rufe sie an, um mich zu bedanken. Dein Paket hat mir meine Seele gestreichelt, und die hatte es bitter nötig. Von welchem Paket ich denn sprechen würde? Nein, sie habe mir kein Paket geschickt, auch wenn sie froh sei zu hören, dass es mir gut gehe. Ich lese noch einmal: Denn so spricht Gott: (…) Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten. Gott? Warst du das etwa? Du mit einer mütterlichen Ader? Gott, der mich tröstet wie eine Mutter. Gott, der Frieden bringt. Gott, der mich trägt wie einen Säugling auf der Hüfte. Gott, der mich auf den Knien schaukelt. Gott, der mein Herz sich freuen lässt. Gott, der meine Knochen sprießen lässt wie junges Gras. Naja, irgendwie würd es schon zu ihm passen – also zu ihr, mein‘ ich natürlich! Gott, der mich tröstet wie eine Mutter? Gott, der mich tröstet wie eine Mutter! Diese Woche wundert mich Garnichts mehr…

Ich wühle in dem Paket. Ganz unten, da ist noch etwas. Tatsächlich! Sorgfältig in Luftpolsterfolie eingepackt finde icheine Osterkerze. Lätare: das kleine Ostern, so sagt man. Bald ist Ostern! Vor lauter SelbstmitLeid hätte ich das fast vergessen. Einekleine Freude auf dem Weg zur großen Freude.

Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt, / Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt. / Liebe lebt auf, die längst erstorben schien: / Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.

Das Lied der Woche. Aus dem Korn unserer Mühsal, das wir im Acker begraben, keimt unverhofft neues Leben, keimt Liebe, die fast vergessen schien. Ich erinnere mich wieder: So sehr ich mich auch verstricke und verirre in Unsicherheit und in Angst angesichts der wirklich ernsten Lage, in der wir uns gerade befinden, so findet Gott doch für mich wieder heraus. Sie spendet mütterlich neues Leben: 

Im Gestein verloren Gottes Samenkorn, / Unser Herz gefangen in Gestrüpp und Dorn – / Hin ging die Nacht, der dritte Tag erschien: / Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.

Gott! Mutter unser! Ich packe die Kerze aus und zünde sie an. Und freue mich. Ein bisschen nur. Aber ich freue mich.

Amen.

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