Andachten

09. Oktober 2024

„Himmel und Erde berühren sich im Menschen“:
An(ge)dacht im Herbst

Von Pfarrer Jürgen Schäfer

Ich war mit meiner Frau in Istanbul und habe diese Stadt am Bosporus für eine Woche genossen. Und ist es wirklich eine Megacity! Europa und Asien berühren sich am Bosporus. Offizielle Einwohnerzahl 16 Millionen; geschätzt sind es aber 20 bis 24 Millionen Einwohner. Unser Hotel war mitten in der Altstadt, nah an der Hagia Sophia und dem Tokapi-Palast. Auf dem Dach war ein großer Aussichtspunkt. Die Stadt lag uns zum Teil zu Füßen. In unmittelbarer Umgebung waren etwa zehn Moscheen sichtbar, erkennbar an der Kuppel und den Minaretten. In Wirklichkeit gibt es noch viel mehr ohne Minarett und ohne Kuppel. Insgesamt hat die Stadt 3000 Moscheegebäude. Zum Vergleich: Rom kommt auf ca. 1000 Kirchengebäude.

Eindrücklich war auch die Präsenz von türkischen Nationalflaggen im Stadtgebiet, auch auf dem überall sichtbaren Fernsehturm auf der asiatischen Seite war abends die türkische Flagge zu sehen. Während abends fast alle großen Moscheen angestrahlt waren – ein faszinierendes Bild – galt dies nicht für die Hagia Sophia, das älteste Gotteshaus in der Stadt. Zwischen den Minaretten an diesem Gebäude hing abends der erleuchtete Spruch: Es ist kein Gott außer Allah!

Nachdem der Präsident Kemal Atatürk 1934 beschlossen hatte, die Hagia Sophia in ein Museum zu verwandeln, wurde sie 2020 auf Erdogans Wunsch vom Museum wieder in eine Moschee verwandelt. Was ist das Besondere an dieser Kirche? Was hebt sie so hervor? Sie hat nämlich keinen Kirchturm, die Minarette kamen erst später.

Kaiser Justinian kam im 6. Jahrhundert auf den Gedanken, ein monumentales, noch nie da gewesenes Gebäude als Kirche zu errichten. Dabei nahm er sich ein Beispiel am Pantheon in Rom, das ein heidnischer Tempel gewesen ist und von einer Kuppel überdacht war, die ihresgleichen suchte. Im Pantheon hat die Kuppel ganz oben ein Loch, durch das Licht, aber auch Regen in die Kuppel hineinfällt.

Den Bau einer Basilika nahm er als Grundriss und ließ den Kirchraum von einer Kuppel überragen. 33 Meter Durchmesser, 55 Meter Höhe. Auf vier Pfeilern gegründet. Architektonisch war das absolutes Neuland und ein Wagnis. Gegenüber dem Pantheon in Rom verfügte Justinian, dass 40 Fenster unter der Kuppel einzubauen sind. Dadurch entsteht der besondere Eindruck, die Kuppel schwebe vom Himmel herunter. Der Lichteinfall direkt unter der Kuppel beleuchtet auf eindrucksvolle Weise die goldgewirkten Mosaike im Kuppelrund und darunter. So hat der Kirchraum eine Botschaft, die sich in einem modernen Kirchenlied so ausdrückt: „Da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns.“

Der monumentale Bau entsprach den imperialen Bestrebungen des Justinian: So verstand er sein Kaisertum: In der Errichtung eines Kaisertums von Gottes Gnaden mit einer Kirche, die den Mittelpunkt der orthodoxen Welt bilden sollte. Rom war, was die Monumentalität anging, übertrumpft. Erst tausend Jahre später wurde der Petersdom gebaut.

Es dauerte 900 Jahre, bis die Osmanen im Jahr 1453 Konstantinopel eroberten. Die Hagia Sophia wurde zur Moschee umgewandelt. Sie war jetzt das Gotteshaus der Muslime. In der Folge bekam sie auch die Minarette. 1538 ernennt Sultan Süleymann, genannt der Prächtige, den 48jährigen Sinan zum Hofarchitekten. Die Moscheen, die er in Konstantinopel baut, sind alle eine Variation der Hagia Sophia: Er variiert das Meisterstück alter Architektur. Zunächst auf vier Pfeilern, dann auf sechs und acht Pfeilern. Doch alle haben diese Kuppel über dem Gebetsraum. Die Hagia Sophia wird zum Vorbild des Moscheebaus schlechthin. Er verwirklicht sie z.B. in der Süleymann-Moschee hoch über der Stadt.

Ist das nicht eindrücklich? Der Moscheebau wurde durch die Hagia Sophia, die Sofienkirche aus dem 6. Jahrhundert, maßgeblich geprägt? Wir merken, wie die Traditionen miteinander verwoben sind, sich miteinander und auseinander entwickelt haben. Aber die Wurzel ist dieselbe. Und imperialer Wahn ist das andere. Er hat die Hagia Sophia hervorgebracht, er hat die Moscheen in Istanbul eindrücklich geprägt.

So stelle ich mir vor, zwischen den Minaretten hinge dieser Liedtext: „Wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen, und neu beginnen ganz neu, da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns, da berühren sich Himmel und Erde, das Frieden werde unter uns.“

Es kann aber ein Gebäude nur eine Anregung sein. Himmel und Erde berühren sich im Menschen. Wir müssen ein wenig mehr Himmel in unsere Erde einbringen. Ein Gebäude mit seiner Botschaft kann uns an diese Aufgabe erinnern. Als Erdogans Gesetzesänderung bekannt wurde, kam aus Europa der Gedanke: Könnte man nicht in der Hagia Sophia Muslime und Christen und Juden gemeinsam beten lassen? Könnte dieses alte Gebäude nicht ein Ort für das Gemeinsame der Religionen sein? Ein Zeichen der Friedfertigkeit und des Miteinanders. So jedenfalls mein Traum. Doch nicht nur Gebäude können einstürzen. Auch Traumhäuser lösen sich manchmal auf.

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