Andachten

01. März 2021

Wenn Steine schreien:

Pfarrer Thomas Hammermeister-Kruse, Diplom-Sozialwirt sowie Evangelischer Theologe, ist an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung als Dozent für Ethik und Interkulturelle Kompetenz tätig. Foto: privat

Pfarrer Thomas Hammermeister-Kruse, Diplom-Sozialwirt sowie Evangelischer Theologe und an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung als Dozent für Ethik und Interkulturelle Kompetenz tätig, schreibt in der Andacht für den März über eine Bibelstelle aus dem Lukas-Evangelium: „Ich sage euch: wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien!“

Da sitzen sie nun zusammen in einem weiten Rund – coronaregelkonform. Sie kennen sich kaum. In der Mitte ihre Mitbringsel eines aufwühlenden Tages: skulpturenhafte Äste, vergilbte Blütenblätter, rostige Metallteile, zerknitterte Dosen, zerklüftete Steine, ein ausgefranster Tampen, - ausdrucksstarke Zeugen einer stillen Suche nach der eigenen Befindlichkeit.

Die Teilnehmer*innen des Seminars „Umgang mit außergewöhnlichen Belastungen“- kirchlich kaum sozialisiert, eher randständig kritisch, mehrheitlich ausgetreten, in der vagen Erwartung auf einen spirituellen Zugang zu sich selbst - hatten sich eine unkonventionelle Form der Andacht gewünscht. Im Rahmen einer dienstlich ermöglichten Auszeit wollten sie sich auf die protestantische Variante des jüdischen Lehrhauses einlassen: Bibeltexten assoziativ ihr Eigenes abgewinnen und dem Wort Gottes nachspüren - unvoreingenommen, selbstverantwortlich, auf Augenhöhe, geschwisterlich.*

Zum Auftakt des Tagesabschlusses suchten sie sich „ihr“ Bibelwort aus einer bereitliegenden Auswahl mit erkennbarem Themenbezug aus. In einer ersten Runde lasen sie ihre eigene Wahl kommentarlos vor. Der Reihe nach gelangte so eine bemerkenswerte Textfülle zu Gehör. Der vielstimmige Mix machte auf die Beweggründe der Auswahl neugierig und ließ interessante Geschichten erwarten. Und es brauchte kaum einer Übergangsmoderation, und es brach aus einer Teilnehmerin heraus: „ich habe sofort meinen Text gefunden, wie ein Spiegel lag er da und ich war froh, dass ihn niemand anderen interessierte.“  Was denn da stünde?

Ich sage euch: wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien!“

Und es gab kein Halten mehr: „Auf den Tag genau ist es elf Jahre und ein Monat her, dass ich geschwiegen habe - und kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht erfahre, wie laut Steine schreien können!  Ihre Klage bohrt sich in´s Gemüt, ihr Gebrüll verstopft den Magen, ihr Lärm übertönt jede Emotion, ihr Crescendo schreit den Verstand nieder!“ Überwältigt von der Macht der eigenen Worte überkommt sie eine tiefe Trauer und weitere Worte gehen im Schluchzen unter.

In der Vertraulichkeit der Anonymität der Gruppe wird ihr mannigfaltig Trost zuteil; auf Nachfrage erzählt sie, sichtbar erleichtert, wie sie eine große Ungerechtigkeit erlebt und aus Angst und Scham geschwiegen hat. Anteil nehmend berichten andere, dass auch ihnen solche Erfahrungen durchaus vertraut seien und wie gut es tut, darüber zu reden. Dann mutmaßten sie, wer denn diejenigen seien, die hier im Bibeltext schweigen obwohl sie eigentlich reden sollten, und was denn die Steine schreien würden.

Gemeinsam geht die Runde dem Ursprung des Textes auf den Grund. Aus eilends herbeigeschafften Bibeln wird zutage gefördert, dass es sich dabei um einen Text aus dem Lukas-Evangelium handelt. Mit den Worten, die der Kollegin so nahe gingen, widerspricht Jesus der Aufforderung des damaligen jüdischen Establishments, unter seinen Anhängern für Ruhe zu sorgen. Pharisäer und Schriftgelehrte regt auf, dass Jesus zum Zeichen seines Anspruchs als sehnlichst erwarteter Friedensfürst demütig auf einem Esel Richtung Jerusalem reitet.

„Wie gerne hätten sie das unterbunden!“ Die Andachtsgemeinde solidarisiert sich mit den Vorkommnissen!  „Ist doch klar! Das passt denen nicht in den Kram! Typisch Politiker, so eine Demonstration der Macht will keiner gerne in seinen Mauern haben! Das ramponiert das eigene Ego! – Klasse, wie Jesus ihren unverblümten Anspruch zurückweist und seine Unterstützung für die von den Weggefährten vorgetragenen Botschaft bekundet!  - Der, der hier kommt ist wirklich der von Gott Gesandte, König des Friedens! -

Und wenn das zu bezeugen, Fans verboten wird, dann werden es eben die Steine herausschreien: Jesu sitzt mit dem meist geächtetsten Menschen in der damaligen Stadt, dem Oberzöllner, zu Tische und verschafft einer anderer Gerechtigkeit Geltung, als Menschen es vermögen.  Ist doch klar: Solche Wahrheit bricht sich Bahn, manchmal auch mit Qualen verbunden, doch derartige Gerechtigkeit siegt!“

Immer?  Da sind sich alle Teilnehmer*innen einig, nicht immer, aber sie kommt, sie ist dort unterwegs zu den Menschen, wo diese sich gegen Widerstände stemmen und für das Gute einsetzen: Damals vor den Toren Jerusalems, und heute bei Belastungen im Leben - privat und dienstlich! Es ist gut zu wissen, dass es einer tat. Und Reden hilft sowieso, es muss ja nicht zum Äußersten kommen.

 

*vgl. Stöhr, Martin: Das Jüdische Lehrhaus – Eine protestantische Wahrnehmung; in: Compass – Infodienst für christlich-jüdische und israel-deutsche Tagesthemen im Web; Online-Extra Nr. 13, Juni 2005; https://www.compass-infodienst.de/Martin-Stoehr-Das-Juedische-Lehrhaus-Eine-protestantische-Wahrnehmung.2015.0.html.(zuletzt aufgerufen am 16.02.2021)
Cookie Hinweis
Diese Webseite verwendet Cookies. Mit der Nutzung dieser Website stimmen Sie der Nutzung dieser Cookies zu. Siehe auch unsere Datenschutzhinweise
Zur Kenntnis genommen